Tun, was man wirklich, wirklich will – Zum Gedenken an Frithjof Bergmann
Nachruf auf den im Mai im Alter von 91 Jahren verstorbenen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann, Vordenker des New-Work-Konzepts.
New Work (dt. Neue Arbeit) ist heute in aller Munde. Nun verstarb im Mai im Alter von 91 Jahren der Mann, der diesen Begriff geprägt und mit ihm eine ganze Bewegung begründet hat. Werfen wir einen erinnernden Blick auf den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann und seine Anliegen, die er mit dem New-Work-Konzept ein Leben lang verfolgte. Die Vision dahinter ist nach wie vor brisant, weil sie ein tiefes Umdenken bezüglich unseres Verständnisses von Arbeit und Wirtschaft erfordert.
Freiheit und Erkenntnis
Fangen wir mit der Freiheit an, denn Bergmanns Neudefinition des Begriffs legte den Grundstein für seinen Theorien zu New Work. An die Illusion einer schrankenlosen und hindernisfreien Welt glaubte er nicht. Und Freiheit war für ihn auch nicht Entscheidungsfreiheit zwischen (sinnlosen) Alternativen. Wahre Freiheit war für Bergmann Handlungsfreiheit: Wenn der Mensch weiß, was er wirklich, wirklich tun möchte und diese Erkenntnis auch umsetzen kann.
Lasst uns mal kurz nachdenken: Wissen wir eigentlich immer, was wir wirklich wirklich wollen und setzen wir es um? Wir gelangen zu einem weiteren seiner Kerngedanken. Der lautet: Die Menschen wissen nicht, was sie wollen. Sie sind “arm an Begierde”, so nannte das Bergmann, und leben in Selbstunkenntnis. Es ist also nicht so, dass wir Menschen immer wissen, was wir wollen und manchmal nur unfähig sind, zu erreichen, wonach wir streben. Nein, wir wissen es nicht, weil wir es nicht lernen oder auch, weil wir es sehr früh verlernen.
In einem Interview erzählte Bergmann einmal, dass er lange Zeit selbst nicht wusste, was er wollte, oder überhaupt die Bedeutung von “etwas zu wollen” nicht erfassen konnte. Das wirkliche Wollen musste auch er sich erst mühsam beibringen. Und um diesen wichtigen Schritt anderen ebenfalls zu ermöglichen, hat Bergmann das “Center of New Work” (dt. Zentrum für Neue Arbeit) gegründet, damit Menschen dort lernen, wie das geht – das wirkliche Wollen.
Von der Theorie zur Praxis
Das erste Zentrum entstand in den 1980er Jahren in Flint, Michigan, USA – eine Stadt, die damals am Tropf des Automobilgiganten General Motors hing und in der sich die ganze Misere der klassischen Lohnarbeit offenbarte: massive Arbeitslosigkeit, extreme Armut und körperlich und emotional müde und frustrierte Menschen. Bergmann hielt die Lohnarbeit für ein krankhaftes und krankmachendes System und propagierte einen kulturellen Wandel – hin zu mehr Unabhängigkeit, Selbstbestimmung des Einzelnen, gemeinschaftlicher Teilhabe und einem guten (Arbeits-)Leben entlang der individuellen Bedürfnisse und Stärken – zentrale Werte von New Work.
Bei General Motors in Flint hat Bergmann seine Theorie in die Praxis umgesetzt: Der Automobilhersteller wollte technisch aufrüsten und im Zuge dessen massiv Personal abbauen. Gegen die Massenentlassungen hat Bergmann dem Unternehmen und seinen Arbeitern folgende Alternative angeboten: Anstatt die Hälfte der Belegschaft zu entlassen, sollten alle bleiben. Die Leute sollten dafür im Wechsel nur noch ein halbes Jahr im Betrieb arbeiten und im zweiten Halbjahr mit dem neu gegründeten „Center of New Work“ zusammenarbeiten. Gemeinsam mit dem Center sollten die Arbeiter einerseits herausfinden, welche Art von Arbeit sie wirklich, wirklich gerne machen würden. Andererseits sollte sie das Center bei dem Versuch unterstützen, mit dem, was sie wirklich gerne täten, auch ihr Einkommen zu erwirtschaften.
Der Versuch brachte persönliche Erfolge für zahlreiche Arbeiter und jede Menge Erkenntnisse, die Bergmann in seine weiteren “New-Work”-Projekte mitnahm. Diese Projekte befassten sich dabei oft mit jenen ganz am Rand der amerikanischen Gesellschaft, wie Obdachlosen oder gefährdeten Jugendlichen. Seine Vision war eine Gesellschaft, in der Menschen ihrer Berufung, d. h. einer Aufgabe, die sie liebten und die sie mit Leidenschaft erfüllte, nachgehen können. Die alten Arbeitsmodelle gaben solche Möglichkeiten in Bergmanns Augen nicht her, standen dem sogar entgegen. New Work war sein Gegenmodell.
Auch an anderen Orten entstanden Zentren für Neue Arbeit. Nicht jedes ist heute noch aktiv, doch insbesondere im deutschsprachigen Raum hat sich mittlerweile eine vielfältige New-Work-Szene etabliert, die den New-Work-Gedanken in die Unternehmen und somit in unsere Arbeitswelt trägt.
Die Utopie eines gelingenden Lebens
Auf die Frage, ob er Philosoph oder eher Ökonom sei, gab Bergmann mal die Antwort: Philosoph, denn sein Ansatz sei der Versuch eine Utopie zu konzipieren und das sei nun einmal etwas Philosophisches. Mit dem utopischen Denken hatte er früh begonnen, als er 18-jährig an einem Schreibwettbewerb zum Thema “Die Welt, die wir wollen“ teilnahm und mit seinem Aufsatz prompt gewann. Für ein Jahr durfte er auf ein amerikanisches College gehen – das war der Preis. Aus dem einen Jahr wurde der Rest seines Lebens. Und im Grunde – so formulierte er es selbst einmal in einem Interview – schrieb er diesen Aufsatz, den er damals begonnen hatte, sein Leben lang fort.
Warum aber widmete sich Bergmann insbesondere dem Bereich Arbeit? Warum nicht, sagen wir, der Lebensführung oder der Freizeit? Er war der Auffassung, dass im Bereich der Arbeit der Kontrast zwischen Indifferenz, also Gleichgültigkeit, und echtem Verlangen stärker sei als in jedem anderen menschlichen Streben. Arbeit könne für den Menschen entsetzlich sein. Sie könne ihn körperlich und emotional krank machen und entstellen. Doch es gebe auch den Gegenpol: Arbeit könne einen Menschen maßlos begeistern, inspirieren, energetisieren und lebendig machen. Zu zeigen, dass sinnvolles Arbeiten möglich ist, gehört zu den großen Errungenschaften von Frithjof Bergmann und seiner mittlerweile weltweit vertretenen New-Work-Bewegung.
Wir sagen Danke und R.I.P, Frithjof Bergmann!
Autorin: Anna Momburg