Wir müssen wieder Anker setzen im ländlichen Raum – Interview mit Marco Beckendorf
Marco Beckendorf ist Bürgermeister der Gemeinde Wiesenburg/Mark. Zusammen mit Bad Belzig ist Wiesenburg „Smart Village“. Die beiden Gemeinden zählen mit einer Vielzahl von Projekten zu den kreativsten Regionen in Brandenburg. Das Interview führt unser Mitglied Frederik Fischer, der in Wiesenburg das erste KoDorf plant und selbst überlegt dorthin umzuziehen.
Gastautor: Frederik Fischer
Marco Beckendorf ist Bürgermeister der Gemeinde Wiesenburg/Mark. Zusammen mit Bad Belzig ist Wiesenburg „Smart Village“. Die beiden Gemeinden zählen mit einer Vielzahl von Projekten zu den kreativsten Regionen in Brandenburg. Das Interview führt unser Mitglied Frederik Fischer, der in Wiesenburg das erste KoDorf plant und selbst überlegt dorthin umzuziehen.
Marco, du bist vor vier Jahren zum Bürgermeister gewählt worden, kommst aber eigentlich aus einer ganz anderen Ecke Brandenburgs: Der Prignitz. Was hat dich nach Wiesenburg geführt?
Da muss ich direkt etwas ausholen, weil das mit meiner Wendeerfahrung zu tun hat. Ich bin 1982 geboren und in Perleberg groß geworden. Perleberg hat heute ein schönes historisches Stadtzentrum, aber während meiner Schulzeit in der DDR war da alles trist und grau. Dann kam die Wende und durch die Städtebauförderung wurde alles schick gemacht. Das hat mich als Kind geprägt. Diese Aufbruchsstimmung. Selbst die Spielzeugläden waren bunter und hatten plötzlich Lego. Ich hab die Wende also eher positiv wahrgenommen. Dieses Gefühl, etwas aufbauen zu können, hat mich bis in die Abi-Zeit hineingetragen.
Da war klar, dass ich etwas studieren möchte, um dann zurückzukommen und diese positive Stimmung weiter voranzubringen und die Brachen wiederzubeleben, die so ab 1993/1994 überall entstanden. 2001 gab es dann diese Gemeindezusammenschlüsse, weil die Gemeinden so stark geschrumpft waren. Mein Jahrgang, die sogenannte verlorene Generation, ist dann auch massiv abgewandert Anfang der 00er. Ich wollte das irgendwann als Bürgermeister verändern. 2003 habe ich in Potsdam Regionalwissenschaften studiert, mit dem Schwerpunkt „Gemeinden mit sinkenden Einwohnerzahlen und steigender Verschuldung“. Nach dem Studium habe ich dann verschiedene Jobs übernommen, die mich Schritt für Schritt auf das Bürgermeisteramt vorbereiteten.
2014 hab ich dann eher durch Zufall erfahren, dass meine Vorgängerin Barbara Klembt vorzeitig aufhört und die Gemeinde Wiesenburg einen neuen Bürgermeister sucht. Ich habe mich mit Frau Klembt getroffen und mich über Wiesenburg informiert. Das hat für mich alles perfekt gepasst. Wiesenburg hatte Probleme, aber für mich überwogen klar die Chancen. Ich war mir sicher, dass Wiesenburg die idealen Voraussetzungen hatte, um eine positive Entwicklung zu nehmen. Also ließ ich mich aufstellen, wurde gewählt und bin seitdem Wiesenburger.
Seit deinem Amtsantritt ist viel passiert. In der Nachbargemeinde Bad Belzig hat sich das Coconat angesiedelt. Auch neuland21 wird nach Bad Belzig ziehen. In Wiesenburg gibt es die innovativen Rückkehrer- und Ansiedlungsprojekte Landwärts, bzw. Neuland Hoher Fläming. Direkt am Bahnhof entsteht ein Naturgolfplatz und nun kommt noch das KoDorf dazu. Wie erklärst du dir die Aufbruchsstimmung?
Hier kam vieles zusammen. Mit der Wahl von Robert Leisegang, dem Bürgermeister von Bad Belzig und mir, erfolgte ein Generationenwechsel in den Verwaltungen. Mit dem Coconat, den Projekten von Franka Kohler (LANDWÄRTS), Barbara Klembt (Neuland Hoher Fläming) und jetzt mit euch oder den Golfern, ist hier eine kritische Masse an Akteuren, die den Weg ebnen für einen Wandel in der Region. Das passt alles wunderbar zusammen. Jetzt geht es mir darum, diese Akteure untereinander zu vernetzen und dafür zu sorgen, dass auch die Bewohner hier von den neuen Angeboten profitieren.
Wiesenburg und Bad Belzig stehen mit ihrer Entwicklung vorbildhaft für den peripheren Raum in Brandenburg. Wird das auch von der Landesregierung erkannt und unterstützt?
Die Landesregierung ist sehr offen für die neuen Ideen und Impulse wie Coworking oder neue Wohnmodelle. Bei der Finanzierung muss sich aber einiges ändern. Die Mittel aus dem Finanzausgleich sind sehr wichtig für Kommunen. Genau hier gibt es aber einen Denkfehler, denn je weniger Einwohner eine Gemeinde hat, desto geringer sind die Mittel aus dem Finanzausgleich. So setzt schnell eine Abwärtsspirale ein. Gerade schrumpfende Gemeinden müssten Möglichkeiten haben, gegenzusteuern. Stattdessen wird der Handlungsspielraum immer geringer. Wenn wir jetzt vom Haushalt bei einer schwarzen Null sind, heißt das: Uns geht es nicht schlecht aber wir können auch nicht investieren. Die Landespolitik muss hier weg von dem „Stärken stärken“-Prinzip und stattdessen fragen: „Was braucht ihr denn eigentlich, damit ihr die Abwärtsspirale aufhalten könnt?“ Und da sagen wir: „Wir brauchen Mittel um wieder Anker zu setzen und die Bevölkerungszahl zumindest zu stabilisieren, damit der Abwasserpreis konstant bleibt und die Kitas und Schulen nicht schließen müssen. An Wachstum denken wir gar nicht mehr.“
Welche andere Form der Unterstützung wünschst du dir?
Eine Förderung für die Nachnutzung von VEB-Brachen wäre eine gute Investition. Mit dem Thema beschäftige ich mich seit dem Studium. Du musst verstehen, dass selbst in der Gemeinde Wiesenburg/Mark von rund 4.000 Einwohnern rund 1.000 in den vier großen VEBs hier beschäftigt waren. Viele davon leben immer noch hier und fahren täglich an diesen Brachen vorbei. Das sind offene Wunden für diese Menschen. Solange diese Wunden schwelen, wird es keine echte Einheit geben zwischen Ost und West. Deshalb ist mir das KoDorf auch so wichtig. Ihr baut nicht einfach auf der grünen Wiese neu, sondern revitalisiert mit dem Sägewerk einen ehemaligen Volkseigenen Betrieb und macht damit einen Neustart möglich. Man muss hier auch klar zwischen dem Speckgürtel von Berlin und dem eher peripheren ländlichen Raum unterscheiden. In Teltow zum Beispiel wäre so ein Sägewerk längst von privaten Investoren entwickelt worden.
Es heißt doch aber immer, es wäre Geld genug da. Das Problem ist vielmehr, dass die Mittel nicht abgerufen werden.
Das stimmt auch teilweise. Einige Fördertöpfe sind wirklich gut gefüllt. Es fehlt aber auf allen Ebenen an Personal und Eigenmitteln für den Abruf. Meine Mitarbeiter haben alle genug zu tun. Die meisten werden auch nicht dafür bezahlt einen langwierigen und komplizierten Förderantrag zu stemmen. Ich hab aber auch nicht die Mittel, einen Mitarbeiter im gehobenen Dienst einzustellen, der sich mit Fördermitteln auskennt. Umgekehrt gibt es auf Landes- und Bundesebene auch keine Mitarbeiter, die die Kommunen im Blick haben und proaktiv anrufen, um uns auf geeignete Förderprogramme hinzuweisen. Dann kommt noch der Eigenanteil dazu, der bei vielen Fördermitteln notwendig ist. Auch wenn wir nur 25 Prozent aus eigenen Mitteln stemmen müssen: Bei einem Projekt, das eine Million kostet, sind das 250.000 Euro. Das ist für eine Gemeinde wie Wiesenburg viel Geld. Dafür müssten wir einen Kredit aufnehmen, aber eine schrumpfende Gemeinde bekommt natürlich nicht mal so eben einen Kredit.
Berliner strömen momentan in Massen nach Brandenburg. Spürt ihr schon etwas von der neuen Landflucht?
Was wir merken, sind vermehrte Anfragen von Rückkehrern. Menschen also, die aus der Region kommen, in Städten wie Berlin studiert haben und nun wieder eine Sehnsucht nach der Heimat verspüren. Ansonsten: Schon seit zwanzig Jahren kaufen sich Berliner hier günstige Wochenendhäuser. Das läuft aber an uns vorbei. Dieser Entwicklung können wir nur entgegenwirken, wenn wir wieder selbst verstärkt Immobilien erwerben, denn dann können wir bestimmen, was damit passieren soll. Dann entscheidet das beste Konzept und nicht der dickste Geldbeutel. Dass Menschen jetzt die Verwaltung kontaktieren, nach Grundstücken fragen und sich hier richtig mit Familien und Projekten ansiedeln wollen, hat eine neue Qualität. So zielorientiert ist es erst seitdem Projekte wie das Coconat, Landwärts oder eben ihr Werbung macht für die Region.
Was würdest du Großstädtern empfehlen, die in Wiesenburg neue Wohnmodelle oder andere neuartige Projekte umsetzen wollen?
Mein Rat wäre, die Verwaltung für die eigene Idee zu begeistern. Eine motivierte Verwaltung kann gerade bei so großen Projekten wie dem KoDorf den Prozess um gut zwei Jahre beschleunigen, indem sie ihre Netzwerke nutzt und sich bei anderen Behörden für das Projekt einsetzt, zum Beispiel bei der Regionalplanung, bei der Landesplanung, bei der unteren Bodenschutzbehörde oder bei der Forstbehörde. Die Verwaltung nutzt ihre Netzwerke gerne, aber die Idee muss passen und auch rechtzeitig an uns herangetragen werden.
Marco, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Frederik Fischer im Juni 2019.
Beitragsfoto: Thomas Kralinski
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Oder wollt ihr mehr über das KoDorf wissen? Infos zum KoDorf Wiesenburg findet ihr hier. Wenn ihr euch zum allgemeinen KoDorf-Newsletter anmelden wollt, seid ihr herzlich eingeladen, das hier zu tun. Und wusstet ihr, dass man im Sommer in Wittenberge KoDorf-Probewohnen kann? Alle Infos dazu hier.